In Deutschland sind 21,2 Prozent der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Das sind etwa 17,7 Millionen Menschen. Sozialforscher Andreas Herteux analysiert die aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes und hinterfragt die Rolle des deutschen Sozialstaats.
Wie viele Menschen sind in Deutschland von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht?
Laut den neuesten Daten des Statistischen Bundesamtes sind in Deutschland 21,2 Prozent der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Dies entspricht etwa 17,7 Millionen Menschen. Die Zahlen stammen aus der Erhebung über Einkommen und Lebensbedingungen 2023 (EU-SILC), in deren Rahmen jedes Jahr ca. 40.000 Haushalte, in Form des Mikrozensus, befragt werden.
Da die Methodik zur Erfassung 2020 grundlegend reformiert wurde und zudem die Corona-Einflüsse einen Sondereffekt darstellen, sind die aktuellen Ergebnisse schwierig oder gar nicht mit Zeiträumen zu vergleichen, die länger als zwei Jahre zurückliegen. Für 2022 waren sie allerdings vergleichbar.
Über den Experten Andreas Herteux
Andreas Herteux ist ein deutscher Wirtschafts- und Sozialforscher, Publizist und der Leiter der Erich von Werner Gesellschaft. Herteux ist zugleich Herausgeber und Co-Autor des Standardwerks über die Geschichte der Freien Wähler (FW). Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt.
Wann ist jemand arm oder gilt als sozial ausgegrenzt?
Für die Erhebung über Einkommen und Lebensbedingungen sind drei Kriterien relevant:
- Das Einkommen liegt unter der Armutsgefährdungsgrenze, d.h. eine Person verdient weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) der Gesamtbevölkerung. Für einen Single entspricht das ca. 1.310 Euro, die im Monat zur Verfügung stehen. Bei zwei Erwachsenen mit zwei Kindern ungefähr 2.750 Euro. Bezieht man Sozialleistungen mit ein, zu denen Renten und Pensionen nicht gezählt werden, gelten 14,3 Prozent der Bevölkerung als von Armut gefährdet. Gäbe es keine Sozialleistungen wären es ungefähr 24,6 Prozent. Das zeigt auch sehr gut den Effekt derartiger staatlicher Interventionen.
- Der jeweilige Haushalt ist von erheblicher materieller und sozialer Entbehrung betroffen. Dieses Kriterium ist letztendlich eine subjektive Selbsteinschätzung der eigenen Situation. Typische Beispiele wären hier Feststellungen, ob die Miete oder anderen Rechnungen pünktlich gezahlt werden können (8,1 Prozent verneinen dies) oder ob ein einwöchiger Urlaub möglich ist (22,6 Prozent sind an dieser Stelle pessimistisch).
- Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligungen. Laut Definition liegt ein solcher dann vor, wenn die tatsächliche Erwerbsbeteiligung der im Haushalt lebenden und zugleich arbeitsfähigen Personen (18 - 59 Jahre) weniger als 20 Prozent des möglichen Tätigkeitsumfangs beträgt.
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Viele Sparer jubeln, weil nach Jahren die Zinsen wieder zurück sind. Finanz-Profi Clemens Schömann-Finck glaubt, das ist kein echter Grund zur Freude. Fallen Anleger jetzt wieder in alte Muster zurück, wird sie das viel Geld kosten.
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Zieht man die klassischen Milieumodelle heran, ist dort primär das prekäre Milieu (ca. 9 Prozent der Bevölkerung) zu nennen, dass sich gerade durch seine geringes Einkommen auszeichnet. Wenig kann es auch überraschen, dass Teile des traditionellen, des sozial-ökologischen und des konsum-hedonistischen Milieus zur Unterschicht gezählt werden können. Das lässt sich fraglos weiter segmentieren. Gefährdet sind auch Menschen mit niedrigem Bildungsstand, Menschen, Alleinerziehende und ihre Kinder, Wohnungslose, Menschen mit Migrationshintergrund, Ältere, Kranke und Menschen mit Behinderung - an dieser Stelle sind die Risikofaktoren schlicht höher.
Inzwischen kann der Absturz aber auch aus der anpassungsfähigen und bürgerlichen Mitte erfolgen. Die Durchlässigkeit ist an dieser Stelle leider gegeben. An dieser Stelle darf auch nicht vergessen werden, dass es inzwischen nicht selten ein allgemeines Gefühl des Niedergangs und des Abstiegs gibt, das sich teilweise subjektiv darstellt, teilweise aber auch objektiv, man denke beispielsweise an die massiven Teuerungen, 65 Prozent der Bevölkerung empfanden 2023 die Inflation als persönliche Bedrohung, begründbar ist. Per Definition ist zwar die Grenze der Armutsgefährdung noch nicht erreicht, aber dennoch sollten auch Tendenzen in diesem Zusammenhang nicht ungenannt bleiben.
"Grundlagen gesellschaftlicher Entwicklungen im 21. Jahrhundert: Neue Erklärungsansätze" von Andreas Herteux
Welche Auswirkungen hat Armut auf das tägliche Leben und die soziale Teilhabe der Betroffenen in Deutschland?
Armut hat erfahrungsgemäß massive Folgen für die betroffenen Personen. Die finanzielle Belastung führt in der Regel zu enormer „psychischer und vielleicht auch physischer Belastung“. Sowohl die Ernährungs- als auch die Gesundheitslage ist in der Regel schlechter als bei einkommensstärkeren Gruppen und ein Gefühl der Ausgrenzung sowie Scham häufig anzutreffen. Teilhabe ist oft schon aufgrund des Einkommens nicht möglich.
Nicht selten gibt es am Ende eine Form der Resignation, die sich wiederum mittelfristig auch auf die Motivation, zumindest die vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen, auswirken kann. Das schafft dann ein Umfeld, das im Besonderen für nachkommende Generationen, die in diese Normalität hineingeboren werden und praktisch nichts anderes kennen, sehr schwierige Startvoraussetzungen schafft. Das Ganze ist aber zweifellos sehr pauschal formuliert und wird dem Einzelfall nur bedingt gerecht.
Ist der Sozialstaat Fluch oder Segen für die Armutsbekämpfung?
An dieser Stelle sollte zwischen Ursache und Symptomen unterschieden werden. Wir haben in Deutschland einen Sozialstaat, der das materielle Existenzminimum, aufgrund der rechtliche Vorgaben, sichern muss. Dies ist zweifellos eine große Errungenschaft, die mit Stolz zu betrachten ist. Er schützt die Schwachen und dafür sollten wir als Gesellschaft solidarisch einstehen.
Der Sozialstaat darf aber kein Mittel zur reinen sozialen Befriedung durch Sozialtransferleistungen sein. Sondern vielmehr ein sicheres Fundament, auf dem der eigene Aufstieg erbaut werden kann. Diese Worte mögen für viele Leser aus der Mittel- und Oberschicht profan, weil vertraut erscheinen und doch sind sie es nicht mehr.
Die große Erzählung vom Aufstieg aufgrund eigener Leistung, die von den großen Chancen, die nur ergriffen werden müssen, wird von vielen nicht mehr geglaubt. Daher bedarf es erst wieder eines Narrativs, eines Ideals. Es braucht einen großen Rahmen. Diesen müssen wir schaffen und innerhalb besagten Rahmens entsprechend fordern und fördern.
Dieser Text stammt von einem Expert aus dem FOCUS online EXPERTS Circle. Unsere Experts verfügen über hohes Fachwissen in ihrem Themenbereich und sind nicht Teil der Redaktion. Mehr erfahren.